Drei Frauen wollten am Brunnen Wasser holen. Nicht weit davon saß ein alter Mann auf einer Bank und hörte zu, wie die Frauen ihre Söhne lobten.
„Mein Sohn“, sagte die erste, „ist so geschickt, daß er alle anderen
hinter sich läßt …“ „Mein Sohn“, sagte die zweite, „singt so schön wie
die Nachtigall! Es gibt keinen, der eine so schöne Stimme hat wie er …“
„Und warum lobst du deinen Sohn nicht?“ fragten sie die dritte, als
diese schwieg. „Er hat nichts, was ich loben könnte“, entgegnete sie.
„Mein Sohn ist nur ein gewöhnlicher Knabe, er hat nichts Besonderes an
sich und in sich …“
Die Frauen füllten ihre Eimer und gingen heim. Der alte Mann aber
ging langsam hinter ihnen her. Die Eimer waren schwer und die
abgearbeiteten Hände schwach. Deshalb legten die Frauen eine Ruhepause
ein, denn der Rücken tat ihnen weh.
Da kamen ihnen drei Jungen entgegen. Der erste stellte sich auf die
Hände und schlug Rad um Rad. Die Frauen riefen: „Welch ein geschickter
Junge!“ Der zweite sang so herrlich wie die Nachtigall, und die Frauen
lauschten andachtsvoll mit Tränen in den Augen. Der dritte Junge lief zu
seiner Mutter, hob die Eimer auf und trug sie heim.
Da fragten die Frauen den alten Mann: „Was sagst du zu unseren
Söhnen?“ „Wo sind eure Söhne?“ fragte der alte Mann verwundert. „Ich
sehe nur einen einzigen Sohn!“
Leo N. Tolstoi
Obwohl diese Geschichte schon etwas älter ist, kann man sie trotzdem in die heutige Zeit übertragen.
Wie oft hört man in Spielgruppen, Kindergärten, Schulen, Sportvereinen... Mütter erzählen, was ihre Sprösslingen so alles können.
Vergessen wir dabei nicht das Wesentliche?